Fangen wir am Ende an
Der „Melting Pot“ der Medizin ist die Zentrale Notaufnahme. Gestern noch hätten sich die anwesenden Personen niemals irgendwo getroffen, heute vereint sie die akute Notsituation. Während meiner Famulatur in der ZNA durfte ich viele dieser menschlichen Kollisionen beobachten und möchte eine davon exemplarisch schildern: Ein Maurer erleidet bei der Arbeit eine Riss-Quetschwunde am Finger. Er wird von der Pflege triagiert, geröngt, vom Arzt untersucht, genäht, seine Hand wird verbunden und er verabschiedet. Jetzt stellt er die für ihn entscheidende Frage: „Wie soll ich denn so arbeiten?“ Der Arzt guckt verwundert auf den nicht besonders imposanten Verband an der Hand und antwortet: „Na dann, machen Sie halt bis zum Wochenende mal nur Büroarbeit!“ Dem Maurer entgleiten die Gesichtszüge: „Sie wissen schon, was ein Maurer normalerweise macht und dass nichts davon in einem Büro stattfinden kann?“
Amüsant, entlarvend und erschütternd zugleich war dieser Dialog. Eine schuldige Person wollen wir hier gar nicht ausfindig machen, vielmehr einen Fehler im System aufzeigen: Ärzt*innen sind nicht nur viel zu oft weiß, ohne Migrationshintergrund, umgeben von anderen Mediziner*innen… sondern auch aus besten finanziellen Verhältnissen und bildungsnahen Elternhäusern (was der elegante Begriff für „keine Maurer-Familie“ ist). Ein längst bekanntes Problem und auch längst bekannte Gründe. Trotzdem möchte ich hier erneut darauf aufmerksam machen, denn eine Veränderung ist dringend nötig.
Wo das Medizinstudium anfängt – und schon (fast) alles zu spät ist
Kein Geheimnis ist, dass die Zulassung zum Medizinstudium einem Marathon gleicht. Er beginnt spätestens zwei Jahre vor dem Abitur, wenn es die ersten Abitur-relevanten Noten hagelt. Doch in Wirklichkeit sind hier schon fast alle Steine längst im Rollen: Zum Medizinstudium zugelassen werden zu zwei Dritteln Schüler*innen, deren Eltern ebenfalls studiert haben. (1)
Ein (Studien)platz unter Reichen
Einmal zugelassen merkt man schnell, dass hier mit anderem Maß gemessen wird. Wurde am Gymnasium noch (völlig zurecht) am Elternabend darüber diskutiert, was ein adäquater Preis für einen Taschenrechner oder eine Klassenfahrt ist, wird hier der Buchkauf (für z.B. über 200 Euro für einen anatomischen Atlas) zur ersten Bewährungsprobe. „Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich bei den Büchern nicht sparen soll. Es geht ja um meine Ausbildung“, hörte ich einmal als Begründung für den üppigen Bücher-Einkauf eines Kommilitonen. Schnell ist klar, Geld spielt hier nur teilweise eine Rolle. Ein deutscher Durchschnitts-Student hatte 2016 918 Euro zur Verfügung (2). Ein Student aus niedriger Bildungsherkunft hat ca. 50 Euro weniger monatlich zur Verfügung als einer aus hoher Bildungsherkunft (idem). Klingt kaum spektakulär. Aber gleichzeitig arbeiten diese Studierenden niedriger Bildungsherkunft zu 30 Prozent in Nebenjobs, um dieses Niveau zu erreichen. Bei Studierenden mit hoher Bildungsherkunft tun das nur 20 Prozent (idem). Für mich einer der entschiedensten Unterschiede: Knapp 80 Prozent der Studierenden mit hoher Bildungsherkunft sehen keine Probleme mit der Finanzierung ihres Lebensunterhaltes während des Studiums (idem). Bei niedriger Bildungsherkunft sind das schon nur noch knapp 50%. Das bedeutet, 50% denken ständig darüber nach, ob das Geld reicht oder nicht. Das bindet geistige Kapazität, bringt jede Menge organisatorische Aufgaben mit sich und fördert ein Gefühl der Ungerechtigkeit.
„Ich habe beispielsweise kein Wohngeld bekommen mit der Begründung, dass ich zu viel Geld verdiene. Hätte ich Wohngeld erhalten, hätte ich ja weniger gearbeitet…“ (3)
Lina, Kommilitonin an der MHH
Damit ist auch schnell erklärt, dass diese „Arbeiterkinder“ sehr viel weniger Geld für Freizeit und Kultur ausgeben und auch am Ende des Monats erheblich seltener Geld übrig haben (2). All das wird blitzschnell relevant, sobald man außerhalb des Regelstudienbetriebes einmal über den Tellerrand schauen will. Habe ich finanzielle (und damit oft auch einhergehend gedankliche) Kapazitäten, um heute Abend ins Theater zu gehen? Könnte ich mir einen Auslandsaufenthalt vorstellen (Spoiler: finanzielle Bedenken sind mit große Abstand der häufigste Grund, warum Auslandsaufenthalte nicht in Frage kommen, idem)? Traue ich mich an eine (unbezahlte) Doktorarbeit während des Studiums heran, die mich evtl. sogar zu einer Verlängerung zwingt?
All diese Fragen – und das kann besonders wütend machen – werden im Alltag eines Medizinstudiums viel zu selten wahrgenommen . Denn hier scheint es ganz normal, dass man für die Ausbildung immer genug Geld zur Verfügung hat.
„Mich macht es traurig, wenn Medizinstudierende mit einem Tunnelblick durchs Studium gehen, ohne sich mit anderen Lebensrealitäten zu befassen.
Ich habe leider kein Geld für teure Bücher, Auslands-Praktika, teure Reisen in den Semesterferien, ein Auto oder Ähnliches. Dass viele meiner Kommiliton*innen in einer anderen Situation sind, müssen wir alle so hinnehmen, sie können ebenso wenig dafür wie ich, aber ein wenig Verständnis kann man hier und da schon erwarten, finde ich.“ (3)
Lina, Kommilitonin an der MHH
Neben dem ewigen Geld-Zählen steht die Tatsache im Vordergrund, dass finanziell schlecht gestellte Studierende erheblich mehr Mut brauchen, um großen Schritte (Studium, Doktorarbeit, Ausland, Freitertial,…) zu gehen.
„Gerade in der Vorklinik habe ich täglich darüber nachgedacht, das Studium abzubrechen. Einmal habe ich mich in den Semesterferien schon für einen anderen Studiengang eingeschrieben, bin dann aber doch im neuen Semester wiedergekommen.“ (3)
Lina, Kommilitonin an der MHH
Und das auch häufig gepaart mit dem Problem, dass man von zu Hause nicht immer nur bedingungslosen Zuspruch erwarten kann, wenn dort all diese Probleme im Alltag gar nicht vorkommen („Was willst du machen, eine Doktorarbeit? Ist das denn wichtig?“).
Immerhin sind all das Entscheidungen, die man tatsächlich noch selber treffen kann. Das kommt gerade im Medizinstudium aber leider viel zu kurz.
Pflicht, Pflicht, Pflicht
Der Zeitaufwand fürs Medizinstudium ist einer der höchsten in der deutschen Uni-Landschaft (2). Böse Zungen könnten behaupten, dass das nicht unbedingt an der Komplexität liegen mag, sondern vielmehr an der Flut von Pflichtveranstaltungen. Begonnen bei unzähligen Seminaren, naturwissenschaftlichen Praktika und Stationsrotationen, bis hin zu sieben Monaten unbezahlten (!) Pflichtpraktika während der vorlesungsfreien Zeit. Eine Zeit, die von Studierenden normalerweise gerne zum jobben genutzt wird. Wer auf einen Nebenerwerb angewiesen ist, muss hier oft jonglieren: Stationspraktikum unter der Woche, bezahlte Schichten am Wochenende oder Nachtdienste. Praktika in ferneren Städten oder gar im Ausland erscheinen hiermit quasi von Beginn an außer Reichweite.
Die Krönung aller Geldsorgen: Das PJ
Hat man die fünf Jahre theoretischen Studiums trotz Nebenjob, Geldsorgen und unendlichen Erklärungsversuchen („Warum willst du eigentlich nicht ins Ausland?“, „Warum machst du dir so einen Stress mit der Doktorarbeit?“, „Warum hast du dir keinen Uni-Pulli gekauft?“) hinter sich gebracht, steht der Endgegner bereit: das PJ. Bereits tausendfach diskutiert und deshalb in aller Kürze: Wer hier für die Vollzeit-Tätigkeit Geld verdient, ist bereits unter den Glücklichen und darf sich nicht beschweren, dass dieses Geld oft nicht einmal die Hälfte der Ausgaben deckt. Da hier auf einen Schlag jegliche zeitliche Flexibilität wegfällt, gibt es für Nebenjobs nur wenige Kapazitäten. Bafög und Studienkredite werden teilweise mit der Aufwandsentschädigung verrechnet oder sind an die Regelstudienzeit gebunden.
„Denn es wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sich jeder, der es bis an die angesehenen Unikliniken dieses Landes geschafft hat, unbezahlte Arbeit leisten kann.“ (4)
Nemi El-Hassan, in einem Artikel des Deutschlandfunks
Es bleiben die Flucht aufs Land (hier gibt es oft eine freie Unterkunft und wenigstens den PJ-Höchstsatz) oder die finale Aufnahme eines Studienkredites, mit dem man dann in den Job startet. Wer dann abends völlig erschöpft die Instagram-Timeline durchscrollt und all die Bilder vom PJ auf Bali („so tolle Erfahrungen“, „und der Strand!“) sieht, gerät vielleicht hier und da auch emotional erneut an seine Grenzen.
Und was kann der Maurer jetzt dafür?
Wie können wir es schaffen, dass Maurer und Arzt sich in der Notaufnahme besser verstehen? Ein großer Schritt wäre es, das Medizinstudium für all diejenigen zu öffnen, die von zu Hause auch andere Lebensumstände kennen, als nur die Praxis der Eltern.
Öffnen heißt: Andere Zugangswege als nur über ein herausragendes Abitur, Flexibilität während des Studiums, um Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, faire Bezahlung bei verpflichtenden Praktika und auch: Empathie im Gespräch mit Kommiliton*innen.
DIE ZITATE UND EINDRÜCKE, DIE IN DIESEM ARTIKEL GESCHILDERT SIND, STAMMEN VON EINIGEN VERSCHIEDENEN STUDIERENDEN DER MHH, MIT DENEN ICH ÜBER DAS THEMA INS GESPRÄCH KAM. DER ARTIKEL IST ALSO EIN VERSUCH, DIE AUFMERKSAMKEIT AUF DIESES THEMA ZU LENKEN, OHNE EINE BESTIMMTE PERSON ODER LEBENSSITUATION IN DEN FOKUS ZU RÜCKEN. DU HAST SELBER ÄHNLICHE ERFAHRUNGEN GEMACHT UND HAST LUST, UNS DAVON ZU ERZÄHLEN? SCHREIBE EINFACH UNTEN IN DIE KOMMENTARE. WIR FREUEN UNS, WENN DAS THEMA VON VIELEN SEITEN BELEUCHTET WIRD UND ETWAS AUFMERKSAMKEIT ERHÄLT!
Quellen & zum Weiterlesen
- https://www.zeit.de/campus/2016-09/aerzte-medizinstudium-zulassung-lehrplan-hierarchie, abgerufen 26.10.2020
- 21. Sozialerhebnung der Studentenwerke: http://www.sozialerhebung.de/download/21/Soz21_hauptbericht.pdf, abgerufen 26.10.2020
- Zitate von Lina, Kommilitonin an der MHH, die das Medizinstudium mit nur wenig finanziellen Mitteln meistert
- Zitat von Nemi El-Hassan aus https://www.deutschlandfunkkultur.de/ausbeutung-im-medizinstudium-die-billigaerzte-vom-dienst.1005.de.html?dram%3Aarticle_id=481788&fbclid=IwAR08kkAcMs75DS6YfLvoz5iWv7KfctVVY7z_kFIx_Q-3EGvJlDTsngsZIpM, abgerufen 26.10.2020