Big Data in Parliament

Eine quantitative Analyse des Sitzungsverhaltens unseres amtierenden Studierendenparlaments. Ein Aufruf an alle Stellvertreter*innen

Auf allen Kanälen wird zurzeit für die nächste StuPa-Wahl und um Kandidat*innen geworben. Grund genug, sich noch einmal mit unserem amtierenden Studierendenparlament auseinanderzusetzen.

Alle, die sich fragen, was dieses StuPa eigentlich sei: das Studierendenparlament, kurz StuPa, ist nach der studentischen Vollversammlung das höchste Organ der studentischen Selbstverwaltung. Es kann zu allen Belangen der Studierendenschaft Beschlüsse fassen, regelt den Haushalt und wählt den AStA. Es ist in seiner Funktion mit dem Bundestag vergleichbar. Alle, die mehr wissen wollen, klicken bitte hier.

Die Wahlwerbung erinnert daran, dass die aktuelle Legislatur zu zwei Dritteln abgelaufen ist. Damit ist es Zeit für ein Analyse. Während die Einhaltung von Wahlversprechen nur schwer erfassbar ist und die deren Erfüllung in vielen Fällen durch die Pandemie behindert wurde, braucht es weitere Kriterien..

Mit der Annahme ihrer Wahl verpflichteten sich die Gewählten zur regelmäßigen Teilnahme an den Sitzungen. Die physische Anwesenheit – bzw. den digital abgehaltenen Sitzungen die zeitgerechte Einwahl – wird protokolliert und eignet sich sehr gut für eine quantitative Betrachtung.

Wer anwesend ist, kann mitdenken und -diskutieren. Dass das eine nicht immer mit dem anderen einhergeht, fällt unter eine der zahlreichen Einschränkungen dieser mit einem Augenzwinkern zu lesenden Betrachtung.

Here we go…

Das Parlament setzt sich aus 21 Hauptvertreter*innen und einer beliebigen Anzahl an Stellvertreter*innen zusammen. Unserer aktuellen Wahlordnung zufolge werden nämlich all‘ diejenigen, die sich aufstellen lassen und mehr als eine Stimme auf sich vereinigen können, zu Stellvertreter*innen und damit zu ordentlichen Mitgliedern des Studierendenparlaments. Eine Analyse der Zusammensetzung des amtierenden StuPas findet ihr hier.

Zu Beginn der laufenden Legislatur war das StuPa 41 Abgeordnete stark, von denen 33 (80,49%) an der konstituierenden Sitzung teilnahmen. Positiv viel auf, dass alle 21 Hauptvertreter*innen anwesend waren. Von den 20 Stellvertreter*innen waren es zwölf.

Schaubild 1: Anwesenheit bei der konstituierenden Sitzung in Prozent. – Alle Doktorand*innen und diejenigen, die bereits Biometrie hatten, wissen: absolute Zahlen zählen! Da aber die Zahl der Haupt- und Stellvertreten*innen differiert, musste ich in Prozent umrechnen, um eine Vergleichbarkeit herzustellen. Deshalb bitte nicht verwirren lassen, die Diagramme sind z.T. in Prozent gehalten. Im Text bemühe ich mich absoluten Zahlen zu verwenden und die unterschiedlichen Angaben zueinander ins Verhältnis zu setzen.

In den folgenden Sitzungen fiel die Anwesenheit insgesamt aber auch in der Gruppe der Hauptvertreter*innen deutlich geringer aus:

Schaubild 2: Anwesenheit bei den ersten sechs Sitzungen der Legislatur in Prozent (vgl. Anmerkung zu Schaubild 1)

Die ersten sechs Sitzungen der Legislatur wurde von 78% von den Hauptvertreter*innen besucht und es nahmen 43,5% der Stellvertreter*innen daran teil. Ich halte beides für gute Quoten. Allerdings geben diese Zahlen keinen Aufschluss darüber, ob immer dieselben Personen gefehlt haben, oder ob sich die Abwesenheit gleichmäßig auf die Abgeordneten verteilt.

Schaubild 3: Anzahl der Sitzungen, an denen Abgeordnete teilgenommen haben (in absoluten Zahlen). – Ablesebeispiel: 8 Hauptvertreter*innen haben jeweils an 5 Sitzungen teilgenommen.

Aus Schaubild 3 folgt, dass unter den Hauptvertreter*innen jeweils drei (14%) Abgeordnete an drei bzw. vier der bisher insgesamt sechs Sitzungen teilgenommen haben. Denen gegenüber stehen sieben (33%) bzw. acht (38%) Abgeordnete, die bei allen bzw. mit einer Ausnahme bei allen Sitzungen präsent waren.

Von den 20 Stellvertreter*innen waren bis auf vier Ausnahmen niemand bei mehr als fünf Sitzungen. Insgesamt haben von den Hauptvertreter*innen mehr als 70% an allen bzw. mit einer Ausnahme allen Sitzungen teilgenommen. Bei den Stellvertreter*innen sind das nur 20%. Umgekehrt haben von den Stellvertreter*innen 45% weniger als drei Sitzungen besucht.

Rolle der Stellvertreter*innen – Stellvertreter*innen machten 55% der stimmberechtigten Sitzungsbeteiligung aus

Bedeutet das, die Stellvertreter*innen sind weniger zuverlässig als die Hauptvertreter*innen? – Meiner Einschätzung nach bedeutet es das nicht! Viele Stellvertreter*innen scheinen sich, wenn sie es bei der Wahl nicht unter die 21 Stimmenmeisten geschafft haben, als Verlierer*in der Wahl zu verstehen. In der Annahme, ohnehin nicht mit(be)stimmen zu dürfen, scheinen sie dann keinen gesteigerten Sinn darin zu sehen, an den Sitzungen teilzunehmen.

Dabei finden die Stimmen der Stellvertreter*innen im Parlament gleichermaßen Gehör wie die Hauptvertreter*innen. Die Geschäftsordnung (§4 Abs. 3) sieht vor, dass wenn ein Platz im StuPa unbesetzt bleibt – aus welchem Grund auch immer – die anwesenden Stellvertreter*innen in der Reihenfolge der Stimmen, die sie bei der Wahl erhalten haben, nachrücken. In der aktuellen Legislatur vertraten zehn Stellvertreter*innen insgesamt 21 Mal Hauptvertreter*innen1. Damit machten sie 55,6% der stimmberechtigten Sitzungsbeteiligung aus.

1Nicht gezählt sind die Vertretungsakte in den Fällen, in denen ein*e Hauptvertreter*in die Sitzung vorzeitig verlassen hat.

Wahrnehmung der Stellvertreter*innen und Kommunikation ihrer Rolle

Die bisherige interne Kommunikation des StuPa (-Präsidiums) kann den Eindruck, als Stellvertreter*in nicht gebraucht zu werden, verstärken.

Schaubild 4: Bildschirmfoto einer Mail an die Abgeordneten. Der vorgeschlagene Modus, der sicher stellen soll, dass immer 21 Abgeordnete bei den Sitzungen anwesend sind, lässt auch eine andere Interpretation zu: Werd ich als Stellvertreter*in nicht von einer*einem Hauptvertreter*in gefragt, ob ich an ihrer*seiner statt teilnehme, brauche ich nicht zur Sitzung erscheinen.
Schaubild 5: Bildschirmfoto aus der Whatsapp-Gruppe. Stimmberechtigt sind diejenigen, „die am weitesten oben stehen“ und anwesend sind!

Mehrerlei ist fest zuhalten:

  • Es braucht eine geordnetes Verfahren zur Organisation von Stellvertretung. Die Whatsapp-Gruppe ist ein Versuch, ein solches zu etablieren.
  • Die gewählten Formulierungen für das in Schaubild 4 vorgeschlagene Verfahren schließt Stellvertreter*innen nicht von der Sitzungsteilnahme aus. Es ermutigt sie aber auch nicht dazu.
  • Betrachtet man wie häufig Abgeordnete abgemeldet/nicht abgemeldet abwesend waren – siehe unten –, fällt auf, dass das vorgeschlagene Verfahren nicht (konsequent) umgesetzt wurde.

Ich fände es hilfreich, wenn die Stellvertreter*innen immer explizit mit eingeladen und zur Aktivität bspw. in den Arbeitsgemeinschaften des StuPas (ärztliches Fehlermanagement, Werbefreier Campus, Stress im Studium/Prävention, gendergerechte Medizin) angehalten werden. Langfristig wünsche ich mir eine Aufweichung der hierarchisierenden Unterscheidung in Haupt- und Stellvertreter*innen und das stattdessen.

Abwesenheit von Abgeordneten

Schaubild 6: Ausscheiden, entschuldigte und unentschuldigte Abwesenheit von Abgeordneten getrennt nach Haupt- und Stellvertreter*innen in Prozent (vgl. auch Anmerkung zu Schaubild 1)

Die Abwesenheit der Abgeordneten ergibt sich indirekt aus Schaubild 3. Interessant ist wie das Verhältnis von entschuldigter und unentschuldigter Abwesenheit ist. In den allermeisten Fällen haben sich die Abgeordneten beim Präsidium abgemeldet und sind in weniger als einem Fünftel der Fälle der Sitzung nicht abgemeldet ferngeblieben.

Für diese Betrachtung habe ich stellvertretende Stupist*innen bei nicht-Anwesenheit grundsätzlich als entschuldigt gezählt, es sei denn, sie hätten den Platz einer*eines fehlende*n Hauptvertreter*in einnehmen müssen1. Und letzteres, kam sehr häufig vor (s.o.). Deshalb hier noch einmal der Aufruf an alle Stellvertreter*innen: versteht es nicht als Niederlage, nicht zum*zur Hauptvertreter*in gewählt worden zu sein und nutzt die Chance als Stellvertreter*in, eure Anliegen einzubringen. Mit Ausnahme der konstituierenden Sitzung sind in jeder Sitzung dieser Legislatur Stellvertreter*innen nachgerückt und haben mit abstimmen können! (Vgl. auch Schaubild 6).

Für die sechste Sitzung liegt noch kein Protokoll vor, mit dem die Anwesenheit bzw. die Nichtanwesenheit geklärt und die Frage abgeglichen werden kann, ob StuPist*innen entschuldigt oder unentschuldigt gefehlt haben. Deshalb wurden nach dem Motto „in dubio pro reo“ alle nicht-Anwesenden als „entschuldigt“ gezählt.

Ausscheiden von Abgeordneten

In dieser Legislatur sind zwei Hauptvertreter*innen (9,1%) und zwei Stellvertreter (5,6%) ausgeschieden, wobei niemand sein Stimmrecht verlor, weil er*sie seinem*ihrem Mandat nicht nachgekommen ist und zu oft unentschuldigt gefehlt hat2.

Zwei Mandate wurde aus studiengangs-organisatorischen Gründen zurückgegeben. Außerdem haben Carlos und Xaver mit ihrer Wahl zum AStA-Referenten für „Hopo außen“ bzw. „Hopo innen“ ihre Mandate als Parlamentarier ebenfalls zurückgegeben.

1Die GO gibt keine differenzierte Auskunft darüber, in wie weit Stellvertreter*innen sich abmelden müssen. Meiner Auslegung nach sollten sie sich als ordentliche Mitglieder ebenfalls abmelden (müssen) bzw. gebietet das die Höflichkeit.

2Vgl. §10 der Satzung der Studierendenschaft

Bestbesuchte Sitzung

Schaubild 7: Übersicht über die Anwesenheit bei den Sitzungen 1.-6. in absoluten Zahlen. Die schwarze Linie trennt die 21 Stimmberechtigten (links davon) von den ggf. darüber hinaus Anwesenden. Für die 6. Sitzung liegen aufgrund des bisher fehlenden Protokolls keine Daten über die Anwesenheit von Gästen vor.

Die bisher am besten besuchte Sitzung war die 4. am 08. Oktober 2020 in der die Zwischenberichte aus dem AStA präsentiert wurden und die Neuwahl der Referate für „Hopo außen“, „Hopo innen“ „Kultur“ und „Presse Print“ anstanden, wobei letztgenanntes Referat erst in der 5. Sitzung neu gewählt wurde. Zählt man die anwesenden Gäste mit, war die 5. Sitzung am 26. November 2020 die am besten besuchte, bei der auch der studentische Haushalt für die kommende Legislatur diskutiert und beschlossen wurde.

Auffällig ist die Zahl der vielen Gäste – und gleichzeitig die verhältnismäßig geringe Beteiligung von Abgeordneten – bei der 3. Sitzung am 18. Juni 2020. In dieser Sitzung wurde die Löschung des Artikels „Die zwei Gesichter der Hilfsorganisation Islamic Relief“ vom CURAREdirekt Blog diskutiert1.

Fazit

Keine der hier präsentierten Metriken lässt einen Rückschluss auf die Arbeit des StuPa zu. Hochschulpolitik gehört zu den vielen Dingen, die sich nicht korrekt abbilden lassen, sondern die man (er)leben muss und an denen sich möglichst Viele beteiligen müssen, damit sie gut werden. Und genau dazu möchte ich aufrufen und einladen. Insbesondere diejenigen, die bereits als „Stellvertreter*innen“ ordentliche Mitglieder des StuPas sind, aber selbstverständlich auch alle anderen!

Hochschulpolitik lohnt sich. Warum, könnt ihr in meinem Plädoyer „Warum es sich lohnt, noch mehr Zeit an der MHH zu verbringen“ lesen.

Zum Wert von Metriken empfehle ich das kurze Essay „Facebooks schlimmstes Gift“ der Datenschutzgruppe der Roten Hilfe Heidelbergs.

1Stellungnahmen und Repliken zu den Stellungnahmen zu den Löschungen https://antidoton.de/replik-zur-asta-stellungnahme; https://www.mhh-asta.de/2020/11/stellungnahmen-bzgl-der-loeschung-eines-artikels-im-curare-direkt-blog/

Die zwei Gesichter der Hilfsorganisation „Islamic Relief“

Zur Spendenpraxis der Islamischen Hochschulgemeinschaft in der Charity Week

Der folgende Text ist ein Artikel, der in genau dieser Form am 12.06.20 auf dem CURAREdirekt Blog der AStA-Seite der Medizinischen Hochschule Hannover veröffentlicht wurde. Die darin genannte Islamische Gemeinschaft (MHH-IG), eine dem Präsidium der MHH unterstellte Organisationseinheit und Projektgruppe des AStAs, drohte daraufhin in diesem Schreiben mit einer Klage „aufgrund übler Nachrede und Verleumdung“ gegen den AStA als Betreiber der Seite. Dieser entfernte daraufhin den Artikel und kündigte an, demokratisch über eine mögliche Wiederveröffentlichung zu entscheiden zu lassen. Dies geschah, obwohl eine Klage derart mangelhaft begründet keinerlei Aussicht auf Erfolg haben konnte. Kurze Zeit später entschuldigte die MHH-IG sich auch für die vorschnelle Drohung, diese sei allerdings als Ausdruck der enormen emotionalen Betroffenheit zu sehen. Zwar wurde auch die inhaltliche Richtigkeit der Recherche von allen Seiten eingestanden und die MHH-IG nahm sofort davon Abstand, weiterhin an den im Artikel genannten Verein Islamic Relief zu spenden. Die dauerhafte Löschung des Artikels wurde dann allerdings vom AStA damit begründet, dass ich als Autor meiner zwischenmenschlichen Verantwortung nicht nachgekommen sei, indem ich die verletzten Gefühle einer vulnerablen Gruppe unzureichend adressiert habe. Die Entscheidung zur Löschung wurde direkt an die emotionale Betroffenheit eines Teiles der Studierendenschaft geknüpft, die in StuPa- und AStA-Sitzungen ganz deutlich artikuliert worden war. Der AStA erklärte, man wolle verhindern, dass sich Studierende durch den Artikel „nicht mehr willkommen und sicher fühlen“.

Stellungnahmen dazu wurden mehr als 5 Monate nach der Löschung des Artikels veröffentlicht: 

https://www.mhh-asta.de/2020/11/stellungnahmen-bzgl-der-loeschung-eines-artikels-im-curare-direkt-blog/

Die MHH-IG unterstellt meinem Artikel gezielte Rufschädigung, populistische Züge und die Verwendung von rechtem Vokabular. Letzteres konnte im Verlauf der Debatte nie belegt werden. Trotz ihres jahrelangen Spendensammelns für Islamic Relief sehen sie sich zu Unrecht in Beziehung zu Islamisten gesetzt. Eine Erklärung, weshalb eine Spende keine Unterstützung sei, ist man bis heute schuldig geblieben.

Die Aktion Deutschland Hilft e.V., mit deren gutem Ruf mehrfach die Entscheidung der MHH-IG zugunsten von Islamic Relief begründet wurde, lässt seit September 2020 die Mitgliedschaft von Islamic Relief ruhen. Grund sei, wie bereits zuvor im unten stehenden Artikel beschrieben, der unzureichende Umgang von Islamic Relief mit rassistischen, antisemitischen und diskriminierenden Aussagen einzelner Personen der Organisation.

https://www.aktion-deutschland-hilft.de/de/fachthemen/news/buendnispartnerschaft-mit-islamic-relief-deutschland-ruht-bis-auf-weiteres/

Die Antidoton-Redaktion distanziert sich von der Löschung des Artikels als lediglich oberflächlicher Konfliktlösung. Dieser Konflikt beruht auf einer inhaltlichen Auseinandersetzung und ist, wenn auch emotional anstrengend, dringend notwendig, berührt er doch außerdem die Frage, wie wir auf dem Campus miteinander leben und streiten wollen. 

Wir haben nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung, sondern mit diesem Blog auch ein Mittel dazu.

Aufmerksame Kommiliton*innen, Besucher*innen des Wohnzimmers und Leser*innen des Studierendenverteilers werden sicherlich im Oktober eine Einladung der Islamischen Hochschulgemeinschaft (MHH-IG) zur Charity Week erhalten haben. In drei Veranstaltungen soll „Mit Spiel und Spaß, Essen und Trinken und auf unterschiedliche Art und Weise [versucht werden,] Spendengelder zu sammeln um verschiedene Projekte zu ermöglichen!“. Initiator und Empfänger der Spendengelder dieser Charity Week ist die Organisation „Islamic Relief“ (IR), deren markantes Logo mit den zwei Minaretten auf dem Einladungsplakat zu finden ist. Sie versorgt teilnehmende Unis mit Organisations- und Werbematerialen. Bei dieser 1984 gegründeten NGO handelt es sich um die größte islamisch inspirierte Hilfsorganisation der Welt. Die Mutterorganisation Islamic Relief Worldwide (IRW) mit Sitz in Birmingham koordiniert das Netz aus mehr als 40 länderspezifischen Vereinen, darunter auch Islamic Relief Deutschland e.V. (IRD). 

Die MHH-IG hat in der Vergangenheit bereits häufiger Spendenaktionen von IR ehrenamtlich unterstützt. Wenngleich die MHH-IG laut Eigendarstellung „unabhängig von anderen islamischen Vereinen, Gruppierungen und Gemeinden arbeitet und keinerlei politische Ziele hat“[i], kann man dieses von IRD, dem Empfänger der Spendengelder und dem sich anschließenden Geflecht aus Vereinen und Organisationen nicht behaupten. Sie stehen schon länger im Verdacht, verfassungsfeindliche Ziele zu verfolgen. Diverse Anfragen durch Politiker der Grünen, FDP und AfD haben jeweils bei Landes- oder Bundesregierung eine Reihe an Antworten provoziert, in denen zumeist Informationen aus Verfassungsschutzberichten aufbereitet wurden. Seit 2017 verwies man in den Antworten auch gern auf eine laufende Prüfung der staatlichen Zuwendungen und Begünstigungen von IRD durch den Bundesrechnungshof.

Laut der Bundes- und einigen Landesregierungen bestehe eine enge Zusammenarbeit mit der DMG (Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V.).[ii] So finanzierte IRD mehrfach als Hauptsponsor Veranstaltungen der DMG sowie der Muslimischen Jugend in Deutschland e.V. (MJD), einer der DMG eng verbundenen Jugendorganisation, sie trat dort mit Redebeiträgen und Workshops auf.[iii] Zudem bestanden immer wieder personelle Verflechtungen zwischen IRD und DMG durch Personen, die als Multifunktionäre beiden Vorständen angehörten. 

Wieso ist dies alles relevant? Die Organisation, die sich hinter dem harmlosen Namen DMG verbirgt, ist, der deutsche Ableger der Muslimbruderschaft, einer verfassungsfeindlichen und islamfaschistischen Organisation.[iv] Sie gilt als älteste und einflussreichste sunnitisch-radikalislamistische Bewegung und ist in vielen Ländern aktiv. Ihr Ziel ist die Errichtung eines Gottesstaats mit der Scharia als höchster Verfassung.[v] Neben ihrem ‚palästinensischen‘ Arm, der Terrororganisation Hamas, die in klerikal-autoritärer Weise den Gazastreifen beherrscht, rückte die Muslimbruderschaft in Ägypten ab 2011 ins weltweite Rampenlicht, als sie von 2012 bis 2013 mit Mohammed Mursi den Staatspräsidenten stellte.

“The Koran is our constitution, the Prophet is our leader, jihad is our path and death in the name of Allah is our goal,”

Muhammed Mursi in einer Wahlkampfrede an der Cairo University[vi]

In unscharfer Abgrenzung zu Terror-Unterorganisationen wie der Hamas, praktiziert die Muslimbruderschaft insbesondere in Deutschland keinen dschihadistischen, sondern einen legalistischen Islamismus. Ohne Einsatz von Gewalt will man mit legalen Mitteln Einfluss gewinnen, Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern anstreben und eine Gesellschaft auf islamischem Recht und Prinzipien gründen, sowie auch der kulturellen Verwestlichung entgegenwirken. Demokratische Systeme werden nur als Übergangslösung akzeptiert, das Verhältnis zu ihnen ist folglich ein taktisches.[vii]

Signifikante personelle Überschneidungen finden sich nicht nur zwischen IRD und DMG, sondern auch zwischen IRD/IRW und der Muslimbruderschaft selbst.[viii]

So muss man auch nicht einmal professioneller Journalist sein, um zu sehen, wie Gründungsmitglieder und Führungspersonen von IR auf ihren Facebook-Seiten Erkennungszeichen der Muslimbruderschaft präsentieren, wie etwa den Rabia-Gruß, dessen Verwendung durch den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan auch in deutschen Medien bereits für Bestürzung gesorgt hatte. Oder wie sie auf Twitter die antisemitische BDS Bewegung unterstützen, die Israel als rassistisch-kolonialistischen Apartheidsstaat sieht und gern auch mal in besonders infamer Weise mit den Nationalsozialisten gleichsetzt.[ix] All dies ist keine umfassende Recherche der Social-Media Präsenzen von Vertretern besagter Vereine. Aber es fügt sich in das Bild, das der Verfassungsschutz in seinen Berichten immer wieder beschreibt und das sich auch auf Material aus Durchsuchungen stützt: Dass es sich bei Islamic Relief, DMG und MJD um Vereine handelt, die nach außen hin eine Fassade aufbauen, mit der sie sich gegenüber der liberalen Mehrheitsgesellschaft als gute Kooperationspartner für soziale Projekte, Bildungspartnerschaften und Seelsorge ausweisen.[x] Dabei hilft auch das nicht zu übersehende „Bekenntnis zum Grundgesetz“ auf der Website der DMG.[xi] Ebenso weiß man, die Klaviatur der liberalen Buzzwords bestens zu bedienen, wenn man von Toleranz, Miteinander, Empowerment und Antirassismus redet. Dass insbesondere die falsche Rede von Toleranz lediglich das Tolerieren der eigenen religiös-autoritären Meinungen durch die Gesellschaft meint, weiß jede*r liberale und aufgeklärte Muslim*a, der*die einmal den Tugendbelehrungen oder dem sozialen Druck seiner*ihrer vermeintlichen Glaubensgenossen ausgesetzt war.

„Islamic Relief Deutschland: Ganzheitlich, nachhaltig, transparent“[xii]

Islamic Relief Aktion „Speisen für Waisen“

Anschluss und scheinbare Integration in die gute und menschenfreundliche Gesellschaft der Spendenorganisationen lässt sich IRD durch Verbindungen zu „Aktion Deutschland hilft“ oder dem „Deutschen Spendenrat e.V.“ bescheinigen. Die Mitgliedschaft in letzterem beinhaltet allerdings lediglich eine Selbstverpflichtung. Die Bloggerin Sigrid Herrmann-Marschall beschreibt in einem Zeitungsartikel, wie dem Spendenrat 2017 eine „gerichtlich festgestellt falsche eidesstattliche Erklärung des Geschäftsführers zur Organisationsstruktur“ gemacht wurde, dessen Ziel eine Verschleierung von „organisatorischen, finanziellen und personellen Verflechtungen“ war.[xiii]

Während man in Deutschland vorsichtiger vorgeht, scheuen sich IR-Ableger anderer Länder auch mitunter nicht, Hassprediger zu Vorträgen einzuladen, die in einigen liberalen europäischen Ländern bereits mit Einreiseverboten belegt sind.[xiv] Das Spendengeld fließt ohnehin mit dem Großteil nach Birmingham zu IRW. So verzeichnet der dortige Annual Report aus 2018 Zuwendungen von rund 10 Mio. EUR durch IRD. IRD hat laut eigenem Jahresbericht 2018 knapp 20 Mio. EUR eingenommen. Abzüglich 3 Mio. EUR für Werbung und sonstige Verwaltungsausgaben, werden ca. 17 Mio. aus Deutschland zur Projektförderung verwendet, letztere aber offensichtlich zu 60% an IRW überwiesen. Ausweislich eines Urteils des Landesgerichts Köln hat es durch IRD-Funktionsträger eine falsche eidesstattlich Aussage zu den Verbindungen von IRD und IRW gegeben.[xv] [xvi]

Man kann davon ausgehen, dass von den Spendengeldern ein guter Teil bei Bedürftigen in aller Welt ankommt. Das ist lobenswert, ebenso die Spendenbereitschaft der Studierenden, der MHH-IG und nicht zuletzt deren ehrenamtliches Engagement in der Sache. Wenngleich man schwer überprüfen kann, was in neu gebauten Schulen in Gaza gelehrt wird. Das oben Beschriebene lässt zumindest vermuten, dass die Muslimbruderschaft sich die Hilfe auf die Fahne schreibt. Dass Schulen und Straßen gern nach Terroristen benannt werden, kann naturgemäß kein Geheimnis bleiben und ist es auch folglich nicht.[xvii] Darüber hinaus ist IR in Israel wegen Terrorfinanzierung schon seit 2014 verboten.[xviii] Es stellt sich natürlich die Frage, warum die unpolitische MHH-IG sich für eine Spendenaktion eine so hochpolitische Organisation wie IR ausgesucht hat. Ist man sich der zunehmenden Kontroversen um die Organisation bewusst?

Ich schreibe mehrere Mails an den Vorstand der MHH-IG, in der ich diese Bedenken äußere. Irgendwann bekomme ich Antwort: Man stehe hinter dem Spendenziel von IR, Waisenkindern zu helfen. Es sei eine unpolitische und nicht der Muslimbruderschaft zugehörige Organisation. Selbst sei man auch unpolitisch. Man habe meine Bedenken bzgl. der Verfassungskonformität an IRD direkt weitergeleitet, der Standpunkt würde dann besser erläutert. Ich hake ein und bemerke, dass die Bundesregierung das anders sieht, lege die Quellen vor. Danach höre ich nie wieder etwas, weder von der MHH-IG, noch von IRD.

Nicht weit entfernt, in der Hannoverschen Innenstadt, wurde im Februar 2020 eine Aktion von IR durch den Stadtkämmerer und das Innenministerium untersagt. Man wolle „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ verhindern, auch nachdem man in den vorherigen Jahren schlechte Erfahrungen mit der Zulassung von Pavillons der Charity Week gemacht habe.[xix] Nun, an der MHH scheint man dafür noch ein Refugium zu bieten.

Auf die Untersuchung des Bundesrechnungshofes wartete ich auch, so wie die interessierten Abgeordneten von FDP und Grünen. Schließlich hatte doch auch das Auswärtige Amt, wenngleich zweckgebunden, jährlich Millionen für ein Syrien-Projekt an IRD gezahlt. Am 23.04. hatte die Zeitschrift Jungle World dann wohl genug gebohrt: Laut Auswärtigem Amt sei die jahrelange Untersuchung des Rechnungshofes zu einem Ergebnis gekommen, dieses könne jedoch mit Berufung auf das Sicherheitsüberprüfungsgesetz nicht veröffentlicht werden.[xx] Die Förderung für das Projekt von IRD sei ausgelaufen und werde nicht verlängert. Am mangelnden Bedarf an medizinischer Versorgung in Syrien wird es wohl nicht gelegen haben.


[i] MHH-Website, als sie vor der Neugestaltung im Dezember 2019 noch einen Internetauftritt der MHH-IG beinhaltete: https://www.mh-hannover.de/mhh-ig.html [Zugriff am 16.10.2019]

[ii] Drucksache 18/10923 des Bundestags

[iii] Drucksache 17/6980 des Landtages in NRW

[iv] Verfassungsschutzbericht 2018

[v] https://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/286322/die-muslimbruderschaft [Zugriff am 02.05.2020]

[vi] Hiermit wiederholte Mursi einen Ausspruch vor Kairoer Studierenden, der je nach Übersetzung in leichten Permutationen aus der Satzung der Bruderschaft entnommen ist: 

https://www.businessinsider.com/morsi-says-jihad-is-our-path-and-death-in-the-name-of-allah-is-our-goal-2012-6?r=DE&IR=T [Zugriff am 02.05.2020]

siehe auch in der Satzung Art. 8:

https://avalon.law.yale.edu/20th_century/hamas.asp [Zugriff am 02.05.2020]

außerdem: 

https://www.wsj.com/articles/SB10001424052748704132204576136590964621006 [Zugriff am 02.05.2020]

[vii] Verfassungsschutzbericht Bayern 2018

[viii] Drucksache 19/9415 des Bundestages

[ix] https://www.zeit.de/kultur/musik/2019-05/eurovision-song-contest-favoriten-israel-politik-bds/seite-2 [Zugriff am 02.05.2020]

[x] Verfassungsschutzbericht Bayern 2012

[xi] https://www.dmgonline.de/dmg/positionen/bekenntnis-zum-grundgesetz/ [Zugriff am 02.05.2020]

[xii] https://www.speisen-fuer-waisen.de/wp-content/uploads/2019/09/05_Islamic-Relief-Deutschland_Eine-deutsche-muslimische-Hilfsorganisation_2019.pdf [Zugriff am 02.05.2020]

[xiii] Sigrid Herrmann-Marschall: Die Hilfsorganisation „Islamic Relief“: Heiligenschein mit Rissen: Materialdienst der EZW 11/2017, S. 418 

Dazu s. auch: OLG Köln, Az.: 15 W 50/16

[xiv] https://vunv1863.wordpress.com/2017/06/25/islamic-relief-speisen-mit-hasspredigern/ [Zugriff am 02.05.2020]

[xv] https://gruene-fraktion-nrw.de/parlament/parlamentarisches/anfragen/anfragendetail/nachricht/gemeinnuetzigkeit-von-islamic-relief-humanitaere-organisation-in-deutschland-ev.html [Zugriff am 02.05.2020]

[xvi] https://vunv1863.wordpress.com/2017/06/25/islamic-relief-speisen-mit-hasspredigern/ [Zugriff am 02.05.2020]

[xvii] https://www.welt.de/politik/ausland/article159115366/Palaestinenser-benennen-Schulen-und-Strassen-nach-Terroristen.html[Zugriff am 02.05.2020]

[xviii] https://www.ngo-monitor.org/ngos/islamic_relief_worldwide_irw_/ [Zugriff am 03.05.2020]

[xix] https://www.neuepresse.de/Hannover/Meine-Stadt/Hannover-gibt-Islamisten-keinen-Platz [Zugriff am 03.05.2020]

[xx] https://jungle.world/artikel/2020/17/kein-bakschisch-mehr-vom-aussenministerium [Zugriff am 02.05.2020]

Rassismus in der Medizin

Disclaimer und Triggerwarnung: Der vorliegende Text behandelt das Thema Rassismus in der Gesundheitsversorgung. Dabei werden auch explizite Beispiele rassistischer Ungleichbehandlung genannt. Der Artikel wurde von einer weißen Person geschrieben und richtet sich vornehmlich an ebenfalls weiß gelesene Menschen, die im Gesundheitswesen tätig sind. Die Autorin möchte sich explizit davon distanzieren, die Sichtweise eines*einer BIPoC* annehmen zu wollen. Vielmehr ist der Artikel als Aufruf zu verstehen, weiße Menschen für Rassismus in der Medizin zu sensibilisieren und Vorschläge zu unterbreiten, wie man als White Ally an der Seite von BIPoCs* stehen kann. 

“Of all forms of inequity, injustice in healthcare is the most shocking and inhumane.”

– Martin Luther King, Jr., National Convention of the Medical Committee for Human Rights, Chicago (1966)

Ich bin als Krankenpflegepraktikantin auf einer internistischen Station eingeteilt. Ein Patient klingelt, er klagt über starke Schmerzen und hält sich den Rücken. Er spricht nur gebrochen Deutsch, aber es ist klar, dass es ihm nicht gut geht. Als ich daraufhin die Stationsärztin aufsuche und ihr von dem Patienten berichte, stöhnt sie auf und sagt: „Das klingt für mich nach einem klassischen Fall von Morbus mediterraneus.“ Morbus mediterraneus – eine Kunstdiagnose, die inoffiziell an Patient*innen vergeben wird, die mutmaßlich ein Migrationserbe aus dem Mittelmeerraum besitzen. Damit verbunden ist das Vorurteil, dass diese Menschen ihre Beschwerden in übertriebener Form zur Schau stellten und Symptome wie Schmerzen überzeichneten. Die Ärztin meiner Station entschied, dass der Patient noch warten könne. Erst einige Stunden später kam sie zu ihm, mittlerweile war er schweißnass vor Schmerzen. Später mussten ihm die Nierensteine operativ entfernt werden. 

Der Begriff „Morbus mediterraneus“ ist mir seither oft im klinischen Alltag begegnet und ist ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie unser Gesundheitssystem von Vorurteilen gegenüber bestimmten Personengruppen durchzogen ist. Es gibt mittlerweile viele Studien, die den Zusammenhang zwischen ethnischer Herkunft und erhaltener Gesundheitsversorgung untersuchen und immer wieder feststellen, dass Black, Indgenous, People of Color (BIPoCs*) schlechter versorgt werden als weiß gelesene Menschen. Dieses Problem ist multifaktoriell bedingt und nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen, fest steht jedoch, dass immer Rassismen zugrunde liegen.  Zum einen spielt der sogenannte „kulturelle Rassismus“ eine Rolle, also negative rassistische Stereotype, die in westlichen Ländern weit verbreitet sind und häufig durch Medien reproduziert und verstärkt werden. Diese sorgen dafür, dass sich nicht-weiß gelesene Menschen täglich mindestens mit Mikroaggressionen (also alltäglichen Äußerungen, die sich auf Vorurteilen begründen)  konfrontiert sehen. Diese stete Abwertung führt erwiesenermaßen bereits an sich zu einem schlechteren psychischen wie physischen Gesundheitszustand marginalisierter Gruppen. Dann gibt es den „institutionellen Rassismus“, der unter anderem dafür sorgt, dass BIPoCs* aus infrastrukturellen Gründen schlechteren Zugang zu Gesundheitsversorgung haben. Schließlich ist auch der „interpersonelle Rassismus“ relevant, den Mediziner*innen durch ihre persönlichen Vorurteile gegenüber bestimmten Menschengruppen kultivieren und der eine vertrauensvolle Ärzt*in-Patient*in-Beziehung untergräbt. Die genannten Formen von Rassismus sind allgegenwärtig. Sie sind nicht unabhängig voneinander, sondern als gemeinsames Konstrukt zu verstehen, dessen Untergruppen sich gegenseitig beeinflussen und am Leben erhalten.1

Beim Thema Rassismus in der Medizin geht es nicht nur um bloße Theorien, die praktischen (negativen) Folgen für die Gesundheitsversorgung nicht-weißer Menschen sind gut untersucht und dokumentiert. In den USA beispielsweise ist „Racial Segregation“ weit verbreitet, also das Phänomen, dass Schwarze und weiße Menschen in unterschiedlichen Vierteln wohnen, die unterschiedlich gut an die Infrastruktur der Daseinsvorsorge angebunden sind. Diese Segregation führt zu einer schlechteren Gesundheitsversorgung von Schwarzen Menschen. So ist sie unter anderem nachweislich assoziiert mit einer späteren Diagnose von Krebserkrankungen und einer geringeren Überlebensrate bei BIPoCs*.2 Die Wohnsituation in den von mehrheitlich Schwarzen Personen bewohnten Vierteln ist häufig prekär, oftmals herrschen Armut, Gewalt und schlechtere hygienische Bedingungen vor. Diese Lebensrealitäten prädisponieren an sich bereits für die Entstehung von Krankheit. Hinzukommt, dass Arztpraxen oder Kliniken oft weit entfernt liegen und der Weg dorthin für viele nicht ohne weiteres möglich ist. Auch in Deutschland ist dieses Problem bekannt. Migrant*innen sind in Deutschland überdurchschnittlich häufig armutsgefährdet, leben aus diesem Grund häufiger in schlechten Wohnverhältnissen und arbeiten mit höherer Wahrscheinlichkeit in gesundheitsgefährdenden Berufen.3 All das führt letztlich zu einem schlechteren physischen wie psychischen Gesundheitszustand, auch völlig ohne das Zutun von Ärzt*innen. 

Doch selbst wenn alle Faktoren, die Ungleichheit zwischen Schwarzen und weißen Menschen erzeugen, wie Wohnverhältnisse, Ansehen, Alter, Versicherungsstatus und Einkommen vergleichbar wären, sind dennoch qualitative Unterschiede in der Gesundheitsversorgung dieser beiden Personengruppen nachweisbar.4,5  Der Grund liegt im strukturellen, institutionalisierten Rassismus, der in Deutschland wie auch im restlichen globalen Norden grassiert.  

„Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, ethnischer Herkunft, Geschlecht, (…), Rasse, (…) zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.“ 

– Auszug aus dem Genfer Gelöbnis

Wäre der strukturelle Rassismus an sich nicht schon Problem genug, so sind es vor allem die daraus abgeleiteten bewussten und unbewussten Stereotype, um die es in diesem Text gehen soll. Sie führen zu einer minderwertigen Behandlung nicht-weiß gelesener Menschen – und zwar in jedem Fachbereich. Eine Studie untersuchte, ob die Qualität verschiedener diagnostischer und therapeutischer Interventionen abhängig vom behandelten Patient*innenkollektiv war. Tatsächlich waren teils erhebliche qualitative Unterschiede zwischen der Betreuung weißer Menschen und der von BIPoCs* zu erkennen.5 Im Klartext heißt das: Schwarze Patient*innen erhalten eine schlechtere Behandlung als weiße. Rassistische Stereotype und Vorurteile haben alle, die in der prädominant weißen, westlichen Welt sozialisiert wurden und selbst weiß gelesen werden. Im Kern werten Rassistische Ideologien bestimmte Personengruppen aufgrund ihrer mutmaßlichen ethnischen Herkunft ab und nehmen dadurch eine Hierarchisierung einzelner Kollektive vor. So ist es nicht verwunderlich, dass Ärzt*innen, die besonders viele Vorurteile hegen, auch besonders anfällig sind, Schwarzen Menschen eine schlechtere Behandlung zukommen zu lassen.6 Natürlich sind diese Mediziner*innen keineswegs alles glühend überzeugte Rassist*innen. Die Mehrheit der Stereotype wird unbewusst gehegt. Es gibt meist überhaupt kein Problembewusstsein. Habe ich in der Vergangenheit Ärzt*innen auf den rassistischen Ursprung des Begriffs „Morbus mediterraneus“ hingewiesen, wurde jeder Zusammenhang zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sofort entschieden zurückgewiesen. Es sei nun mal aus der klinischen Erfahrung ableitbar, dass Migrant*innen zu oben beschriebenem Verhalten neigten, wodurch die Verwendung dieses Ausdrucks in den Augen der meisten gerechtfertigt war. Das ist natürlich ein moralischer Taschenspieler*innentrick: Man nehme einen materiellen Tatbestand („Morbus mediterraneus begründet sich auf rassistischen Vorurteilen“), weise diesen empört zurück („Ich bin doch kein*e Rassist*in! Das beruht auf jahrelangen Beobachtungen!“) und bringe das Anliegen auf diese Weise diskursiv zum Verschwinden. Wer es nun nicht entschieden auf eine hoch emotionalisierte und von persönlichen (Schein-)Angriffen geprägte Auseinandersetzung ankommen lassen will, wird spätestens jetzt das Thema wechseln. Das Grundproblem wird derweil überhaupt nicht behandelt. Selbst wenn das subjektive Schmerzempfinden zwischen ethnischen Gruppen differieren würde, dürfte diese Tatsache nicht zum Anlass genommen werden, unterschiedlichen Personengruppen eine unterschiedliche Behandlung oder Fürsorge zukommen zu lassen. Dieser gedankliche Schritt wird aber im klinischen Alltag nicht gegangen. Das klare Hierarchie- und Abhängigkeitsgefälle zwischen Patient*in und Behandler*in, aber auch die strenge Rangordnung innerhalb des ärztlichen Teams, sorgen ferner dafür, dass rassistische Stereotype ungehindert weiter zementiert und hofiert werden. So bleibt abzuwarten, wann eine längst überfällige Debatte zu diesem Thema endlich möglich sein wird. 

„Dass alle immer weiß sind, macht einen Alien-artig.“

– Amalie Toyou, BLM-Aktivist*in

Das Gesundheitssystem in Deutschland ist eines von weißen für weiße. Schwarze Menschen oder BIPoCs* kommen dort nicht vor, sie müssen sich mit dem weißen Standard zufriedengeben. Wer als Patient*in auf Station kein Deutsch spricht, hat entweder Glück und es findet sich ein*e Angestellte*r, der*die übersetzen kann, oder es findet eben keine adäquate Aufklärung statt. Eigens eingestellte Dolmetscher*innen gibt es fast nie, oft ist nicht einmal das Informationsmaterial zu einem Eingriff auf einer anderen Sprache verfügbar. Schon im Studium wird einem der weiße Körper als Goldstandard verkauft. Das führt zu erheblichen gesundheitlichen Benachteiligungen Schwarzer Menschen. Hautkrebs beispielsweise wird bei BIPoCs* häufiger erst in einem späteren Stadium mit entsprechend schlechterer Prognose als bei weißen Menschen erkannt, weil im Studium nie gelehrt wird, wie sich ein Melanom auf Schwarzer Haut präsentiert. Die 5-Jahres-Überlebensrate für Maligne Melanome liegen bei Schwarzen bei nur 65 % – im Vergleich zu 91 % bei weißen Menschen.7 Wir versorgen Patient*innen mit Pflastern in „Hautfarbe“ und meinen damit doch nur weiße Menschen –  oder wer hat schon mal im Klinikalltag ein dunkles Pflaster gesehen? Beta-Blocker gehören sicherlich zu den am häufigsten verschriebenen Arzneimitteln überhaupt. Doch bei BIPoCs* können sie unter Umständen zu einer paradoxen Wirkung führen – eine Tatsache, die wenig bekannt und gegebenenfalls sehr gefährlich für Patient*innen ist.8Nicht nur in der Klinik, sondern bereits in der Forschung ist der weiße, männliche Mensch der Standardpatient. Erkenntnisse werden einfach auf alle anderen Bevölkerungsgruppen extrapoliert. Solange sich das nicht ändert, nehmen wir billigend in Kauf, dass Menschen, die diesem Standard nicht entsprechen, Präparate einnehmen müssen, die gegebenenfalls für sie gefährlich werden können. Überraschenderweise ist dieses Phänomen keines, das sich exklusiv auf den Globalen Norden erstreckt. Nicht einmal in Afrika selbst gibt es medizinische Lehrbücher mit Abbildungen von Schwarzen Menschen – der weiße Mann herrscht auch hier vor, Kolonialismus sei Dank. 

Doch mittlerweile ist Bewegung in die Sache gekommen. Der britische Medizinstudent Malone Mukwende hat ein Lehrbuch veröffentlicht, das Hautveränderungen auf Schwarzer Haut zeigt. Unter dem Titel “Mind the Gap: A Handbook of Clinical Signs in Black and Brown Skin” ist es als pdf-Dokument kostenlos erhältlich. Gleichzeitig wird es ständig aktualisiert – man kann sogar selbst Bilder einreichen – mit dem Ziel, eine globale Datenbank zu erschaffen, um die Gesundheitsversorgung Schwarzer Menschen zu verbessern und die Augen der Mediziner*innen für Pathologien auf Schwarzer Haut zu schulen. Die internationale Studierendengruppe „White Coats for Black Lives“ macht regelmäßig auf Rassismus in der Medizin aufmerksam und stellt Forderungen auf, wie dieses Problem überwunden werden kann.9

Wichtig ist, dass die Weichen für ein diverseres und inklusiveres Menschenbild bereits im Studium selbst gestellt werden. Rassismus beinhaltet nicht nur die Abwertung einer Personengruppe, sondern auch die Aufwertung einer anderen. Den meisten weißen Medizinstudierenden wird es nicht bewusst sein, aber sie hatten nie das Problem, während ihrer Ausbildung Ärzt*innen derselben Hautfarbe, mit ähnlich klingenden Namen und vergleichbaren Lebenshintergründen anzutreffen. Die Identifikation gelingt leicht. Aber wie muss es sich für Schwarze Menschen anfühlen, sich in einem vorwiegend weißen System behaupten zu müssen? Wie viele Schwarze Kommiliton*innen kennt ihr? Wie viele Schwarze Ärzt*innen haben Vorlesungen gehalten? Die Repräsentation von BIPoCs* im medizinischen Kosmos muss ausgebaut werden. Zur Umsetzung dieses Ziels braucht es spezifische Förderprogramme. Es sollten mindestens so viele Schwarze Menschen Medizin studieren, dass sich ihr Anteil mit dem an der Gesamtbevölkerung deckt. Damit ist es jedoch nicht getan. 

“Kurz gesagt: Du bist rassistisch sozialisiert worden. So, wie viele Generationen vor Dir, seit über dreihundert Jahren.”            

― Tupoka Ogette, exit RACISM. rassismuskritisch denken lernen

Der erste Schritt, den weiße Menschen bei der Debatte um Rassismus gehen müssen, beinhaltet die Anerkennung, dass wir alle mit rassistischen Stereotypen erzogen und sozialisiert wurden und diese mal stärker, mal schwächer im Alltag reproduzieren. Wir leben in einem rassistischen System, das seit Jahrhunderten in wertes und unwertes (oder zumindest: minderwertes) Leben unterscheidet – wie sonst wären die Tuskegee-Syphilis-Studie, Kolonialverbrechen oder Straftaten im Namen der Eugenik im Nationalsozialismus sonst möglich gewesen? Trotz politischer Systemwechsel blieb der Rassismus erhalten – glücklicherweise in zumindest quantitativ abgeschwächter Form, aber dennoch werden Betroffene weiterhin schlechter behandelt. Als weiße Person muss man sich der eigenen Hegemonialstellung in westlichen Gesellschaften sowie den damit verbundenen Privilegien bewusst sein. Gelingt diese Selbstreflexion, ist es möglich, aktiv als „White Ally“ im Kampf gegen Rassismus tätig zu werden. Dieser Prozess ist fortwährend und niemals abgeschlossen. Es wird keinen Punkt geben, an dem man „frei“ von rassistischem Gedankengut ist. Wichtig ist, zuzuhören, sich weiterzubilden und offen zu bleiben, Neues zu lernen. 

Laut einer Studie hegen ungefähr 50 % der weißen Medizinstudierenden fälschliche Annahmen zu biologischen Unterschieden zwischen weißen und BIPoCs*. Beispielsweise denken viele, Schwarze Haut sei dicker oder das Blut von Schwarzen Personen würde schneller gerinnen. Doch damit nicht genug: Wurden diese biologistischen Fehleinschätzungen gemacht, hatte das messbare Folgen. Studierende, die besonders viele Unterschiede zwischen weißen und Schwarzen Menschen zu erkennen glaubten, schätzten von Schwarzen Patient*innen geäußerte Schmerzen als signifikant geringer ein als die weißer Patient*innen. Auch die abgegebenen Therapieempfehlungen für BIPoCs* waren unpräziser.10 Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, nachhaltige Aufklärungsarbeit zu leisten. Das umfasst die Aufnahme von Rassismuskritik in die universitären Curricula. Es muss eine längst überfällige Debatte über die Geschichte von Rassismus in der Medizin geführt werden. Kolonialverbrechen (deren Folgen bis in die Gegenwart reichen) müssen aufgearbeitet und öffentlich gemacht werden. Die Rolle von Rassismus bei der ungleichen Gesundheitsversorgung muss viel stärker in den Fokus gerückt werden. Nur, wer öffentlich anerkennt, dass struktureller Rassismus vor der öffentlichen Daseinsfürsorge nicht Halt macht, wird in der Lage sein, langfristige Veränderungen herbeizuführen. Die Landesärztekammer Hessen hat dem gesteigerten Problembewusstsein Rechnung getragen und in diesem Jahr den ersten „Rassismus-Beauftragten“ eingestellt. An diese Person können sich Patient*innen wenden, wenn sie im Rahmen einer Behandlung Rassismus erlebten. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, der zeigt, dass das Zeitalter der Ärzt*innen als „Halbgött*innen in Weiß“ vorbei ist und sich Patient*innen im Falle einer Ungleichbehandlung selbstermächtigen können und sollen. Denn das immense Machtgefälle zwischen Behandler*in und Patient*in prädisponiert den medizinischen Bereich geradezu dafür, Rassismus und andere Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit widerstandslos zu zementieren. Die Versorgungsknappheit und der Mangel an medizinischer Infrastruktur macht eine echte Wahlfreiheit nahezu unmöglich, in der Regel müssen Patient*innen froh sein, überhaupt irgendwo einen Termin zu erhalten. Der Schritt durch die Tür einer Klinik oder Praxis bedeutet für Patient*innen immer auch, ein Stückchen Würde und Autonomie abzugeben. Durch den enormen Wissensvorsprung der Ärzt*innen trauen sich die wenigsten, die verordnete Therapie oder die erfahrene Versorgung in Zweifel zu ziehen. Eine öffentlich geführte Debatte über Rassismus in der Medizin könnte dazu führen, dass Patient*innen künftig eher den Mut finden, ärztliches Fehlverhalten zu melden. Dennoch soll dieser Artikel nicht damit enden, die Verantwortung für eine Veränderung des Systems in die Hände der Schwächsten, in dem Falle in die der von Rassismus betroffenen Menschen, zu legen. Die Bekämpfung von Rassismus ist und bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nur durch kontinuierliche Aufklärungs-, Präventions- und Empowermentarbeit gemeistert werden kann. Wer also für eine gerechtere Welt kämpfen möchte, kann damit sofort anfangen – und zwar bei sich selbst.

Anmerkung: Das Wort „Schwarz“ wird im Artikel großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt und keine reelle Eigenschaft, die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist. Um den Konstruktionscharakter der Kategorie »weiß« zu verdeutlichen, wird diese  – im Gegensatz zur politischen Selbstbezeichnung  »Schwarz«  –  kleingeschrieben.“ (Quelle: Amnesty) 

1.         Cobbinah SS, Lewis J. Racism & Health: A public health perspective on racial discrimination. Journal of evaluation in clinical practice. 2018;24(5):995-998. doi:10.1111/jep.12894

2.         Landrine H, Corral I, Lee JGL, Efird JT, Hall MB, Bess JJ. Residential Segregation and Racial Cancer Disparities: A Systematic Review. Journal of Racial and Ethnic Health Disparities. 2017;4(6):1195-1205. doi:10.1007/s40615-016-0326-9

3.         Rabenberg M. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Migration und Gesundheit. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. 2013;54. http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsT/arthrose.pdf?__blob=publicationFile

4.         Phelan JC, Link BG. Is Racism a Fundamental Cause of Inequalities in Health? Annual Review of Sociology. 2015;41(1):311-330. doi:10.1146/annurev-soc-073014-112305

5.         Nelson A. Unequal treatment: confronting racial and ethnic disparities in health care. Journal of the National Medical Association. 2002;94(8):666-668.

6.         van Ryn M, Burgess DJ, Dovidio JF, et al. THE IMPACT OF RACISM ON CLINICIAN COGNITION, BEHAVIOR, AND CLINICAL DECISION MAKING. Du Bois review : social science research on race. 2011;8(1):199-218. doi:10.1017/S1742058X11000191

7.         Bradford PT. Skin cancer in skin of color. Dermatology nursing. 2009;21(4):170-177, 206; quiz 178.

8.         Brewster LM, Seedat YK. Why do hypertensive patients of African ancestry respond better to calcium blockers  and diuretics than to ACE inhibitors and β-adrenergic blockers? A systematic review. BMC medicine. 2013;11:141. doi:10.1186/1741-7015-11-141

9.         Charles D, Himmelstein K, Keenan W, Barcelo N. White Coats for Black Lives: Medical Students Responding to Racism and Police Brutality. Journal of urban health : bulletin of the New York Academy of Medicine. 2015;92(6):1007-1010. doi:10.1007/s11524-015-9993-9

10.        Hoffman KM, Trawalter S, Axt JR, Oliver MN. Racial bias in pain assessment and treatment recommendations, and false beliefs about biological differences between blacks and whites. Proceedings of the National Academy of Sciences. 2016;113(16):4296 LP – 4301. doi:10.1073/pnas.1516047113

Kommt ein Maurer zum Arzt…

Fangen wir am Ende an

Der „Melting Pot“ der Medizin ist die Zentrale Notaufnahme. Gestern noch hätten sich die anwesenden Personen niemals irgendwo getroffen, heute vereint sie die akute Notsituation. Während meiner Famulatur in der ZNA durfte ich viele dieser menschlichen Kollisionen beobachten und möchte eine davon exemplarisch schildern: Ein Maurer erleidet bei der Arbeit eine Riss-Quetschwunde am Finger. Er wird von der Pflege triagiert, geröngt, vom Arzt untersucht, genäht, seine Hand wird verbunden und er verabschiedet. Jetzt stellt er die für ihn entscheidende Frage: „Wie soll ich denn so arbeiten?“ Der Arzt guckt verwundert auf den nicht besonders imposanten Verband an der Hand und antwortet: „Na dann, machen Sie halt bis zum Wochenende mal nur Büroarbeit!“ Dem Maurer entgleiten die Gesichtszüge: „Sie wissen schon, was ein Maurer normalerweise macht und dass nichts davon in einem Büro stattfinden kann?“ 

Amüsant, entlarvend und erschütternd zugleich war dieser Dialog. Eine schuldige Person wollen wir hier gar nicht ausfindig machen, vielmehr einen Fehler im System aufzeigen: Ärzt*innen sind nicht nur viel zu oft weiß, ohne Migrationshintergrund, umgeben von anderen Mediziner*innen… sondern auch aus besten finanziellen Verhältnissen und bildungsnahen Elternhäusern (was der elegante Begriff für „keine Maurer-Familie“ ist). Ein längst bekanntes Problem und auch längst bekannte Gründe. Trotzdem möchte ich hier erneut darauf aufmerksam machen, denn eine Veränderung ist dringend nötig.

Wo das Medizinstudium anfängt – und schon (fast) alles zu spät ist

Kein Geheimnis ist, dass die Zulassung zum Medizinstudium einem Marathon gleicht. Er beginnt spätestens zwei Jahre vor dem Abitur, wenn es die ersten Abitur-relevanten Noten hagelt. Doch in Wirklichkeit sind hier schon fast alle Steine längst im Rollen: Zum Medizinstudium zugelassen werden zu zwei Dritteln Schüler*innen, deren Eltern ebenfalls studiert haben. (1)

Ein (Studien)platz unter Reichen

Einmal zugelassen merkt man schnell, dass hier mit anderem Maß gemessen wird. Wurde am Gymnasium noch (völlig zurecht) am Elternabend darüber diskutiert, was ein adäquater Preis für einen Taschenrechner oder eine Klassenfahrt ist, wird hier der Buchkauf (für z.B. über 200 Euro für einen anatomischen Atlas) zur ersten Bewährungsprobe. „Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich bei den Büchern nicht sparen soll. Es geht ja um meine Ausbildung“, hörte ich einmal als Begründung für den üppigen Bücher-Einkauf eines Kommilitonen. Schnell ist klar, Geld spielt hier nur teilweise eine Rolle. Ein deutscher Durchschnitts-Student hatte 2016 918 Euro zur Verfügung (2). Ein Student aus niedriger Bildungsherkunft hat ca. 50 Euro weniger monatlich zur Verfügung als einer aus hoher Bildungsherkunft (idem). Klingt kaum spektakulär. Aber gleichzeitig arbeiten diese Studierenden niedriger Bildungsherkunft zu 30 Prozent in Nebenjobs, um dieses Niveau zu erreichen. Bei Studierenden mit hoher Bildungsherkunft tun das nur 20 Prozent (idem). Für mich einer der entschiedensten Unterschiede: Knapp 80 Prozent der Studierenden mit hoher Bildungsherkunft sehen keine Probleme mit der Finanzierung ihres Lebensunterhaltes während des Studiums (idem). Bei niedriger Bildungsherkunft sind das schon nur noch knapp 50%. Das bedeutet, 50% denken ständig darüber nach, ob das Geld reicht oder nicht. Das bindet geistige Kapazität, bringt jede Menge organisatorische Aufgaben mit sich und fördert ein Gefühl der Ungerechtigkeit.

„Ich habe beispielsweise kein Wohngeld bekommen mit der Begründung, dass ich zu viel Geld verdiene. Hätte ich Wohngeld erhalten, hätte ich ja weniger gearbeitet…“ (3)

Lina, Kommilitonin an der MHH

Damit ist auch schnell erklärt, dass diese „Arbeiterkinder“ sehr viel weniger Geld für Freizeit und Kultur ausgeben und auch am Ende des Monats erheblich seltener Geld übrig haben (2). All das wird blitzschnell relevant, sobald man außerhalb des Regelstudienbetriebes einmal über den Tellerrand schauen will. Habe ich finanzielle (und damit oft auch einhergehend gedankliche) Kapazitäten, um heute Abend ins Theater zu gehen? Könnte ich mir einen Auslandsaufenthalt vorstellen (Spoiler: finanzielle Bedenken sind mit große Abstand der häufigste Grund, warum Auslandsaufenthalte nicht in Frage kommen, idem)? Traue ich mich an eine (unbezahlte) Doktorarbeit während des Studiums heran, die mich evtl. sogar zu einer Verlängerung zwingt? 

All diese Fragen – und das kann besonders wütend machen – werden im Alltag eines Medizinstudiums viel zu selten wahrgenommen . Denn hier scheint es ganz normal, dass man für die Ausbildung immer genug Geld zur Verfügung hat. 

„Mich macht es traurig, wenn Medizinstudierende mit einem Tunnelblick durchs Studium gehen, ohne sich mit anderen Lebensrealitäten zu befassen. 

Ich habe leider kein Geld für teure Bücher, Auslands-Praktika, teure Reisen in den Semesterferien, ein Auto oder Ähnliches. Dass viele meiner Kommiliton*innen in einer anderen Situation sind, müssen wir alle so hinnehmen, sie können ebenso wenig dafür wie ich, aber ein wenig Verständnis kann man hier und da schon erwarten, finde ich.“ (3)

Lina, Kommilitonin an der MHH

Neben dem ewigen Geld-Zählen steht die Tatsache im Vordergrund, dass finanziell schlecht gestellte Studierende erheblich mehr Mut brauchen, um großen Schritte (Studium, Doktorarbeit, Ausland, Freitertial,…) zu gehen. 

„Gerade in der Vorklinik habe ich täglich darüber nachgedacht, das Studium abzubrechen. Einmal habe ich mich in den Semesterferien schon für einen anderen Studiengang eingeschrieben, bin dann aber doch im neuen Semester wiedergekommen.“ (3)

Lina, Kommilitonin an der MHH

Und das auch häufig gepaart mit dem Problem, dass man von zu Hause nicht immer nur bedingungslosen Zuspruch erwarten kann, wenn dort all diese Probleme im Alltag gar nicht vorkommen („Was willst du machen, eine Doktorarbeit? Ist das denn wichtig?“). 

Immerhin sind all das Entscheidungen, die man tatsächlich noch selber treffen kann. Das kommt gerade im Medizinstudium aber leider viel zu kurz.

Pflicht, Pflicht, Pflicht

Der Zeitaufwand fürs Medizinstudium ist einer der höchsten in der deutschen Uni-Landschaft (2). Böse Zungen könnten behaupten, dass das nicht unbedingt an der Komplexität liegen mag, sondern vielmehr an der Flut von Pflichtveranstaltungen. Begonnen bei unzähligen Seminaren, naturwissenschaftlichen Praktika und Stationsrotationen, bis hin zu sieben Monaten unbezahlten (!) Pflichtpraktika während der vorlesungsfreien Zeit. Eine Zeit, die von Studierenden normalerweise gerne zum jobben genutzt wird. Wer auf einen Nebenerwerb angewiesen ist, muss hier oft jonglieren: Stationspraktikum unter der Woche, bezahlte Schichten am Wochenende oder Nachtdienste. Praktika in ferneren Städten oder gar im Ausland erscheinen hiermit quasi von Beginn an außer Reichweite. 

Die Krönung aller Geldsorgen: Das PJ

Hat man die fünf Jahre theoretischen Studiums trotz Nebenjob, Geldsorgen und unendlichen Erklärungsversuchen („Warum willst du eigentlich nicht ins Ausland?“, „Warum machst du dir so einen Stress mit der Doktorarbeit?“, „Warum hast du dir keinen Uni-Pulli gekauft?“) hinter sich gebracht, steht der Endgegner bereit: das PJ. Bereits tausendfach diskutiert und deshalb in aller Kürze: Wer hier für die Vollzeit-Tätigkeit Geld verdient, ist bereits unter den Glücklichen und darf sich nicht beschweren, dass dieses Geld oft nicht einmal die Hälfte der Ausgaben deckt. Da hier auf einen Schlag jegliche zeitliche Flexibilität wegfällt, gibt es für Nebenjobs nur wenige Kapazitäten. Bafög und Studienkredite werden teilweise mit der Aufwandsentschädigung verrechnet oder sind an die Regelstudienzeit gebunden.

„Denn es wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sich jeder, der es bis an die angesehenen Unikliniken dieses Landes geschafft hat, unbezahlte Arbeit leisten kann.“ (4)

Nemi El-Hassan, in einem Artikel des Deutschlandfunks

Es bleiben die Flucht aufs Land (hier gibt es oft eine freie Unterkunft und wenigstens den PJ-Höchstsatz) oder die finale Aufnahme eines Studienkredites, mit dem man dann in den Job startet. Wer dann abends völlig erschöpft die Instagram-Timeline durchscrollt und all die Bilder vom PJ auf Bali („so tolle Erfahrungen“, „und der Strand!“) sieht, gerät vielleicht hier und da auch emotional erneut an seine Grenzen. 

Und was kann der Maurer jetzt dafür?

Wie können wir es schaffen, dass Maurer und Arzt sich in der Notaufnahme besser verstehen? Ein großer Schritt wäre es, das Medizinstudium für all diejenigen zu öffnen, die von zu Hause auch andere Lebensumstände kennen, als nur die Praxis der Eltern. 

Öffnen heißt: Andere Zugangswege als nur über ein herausragendes Abitur, Flexibilität während des Studiums, um Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, faire Bezahlung bei verpflichtenden Praktika und auch: Empathie im Gespräch mit Kommiliton*innen.

DIE ZITATE UND EINDRÜCKE, DIE IN DIESEM ARTIKEL GESCHILDERT SIND, STAMMEN VON EINIGEN VERSCHIEDENEN STUDIERENDEN DER MHH, MIT DENEN ICH ÜBER DAS THEMA INS GESPRÄCH KAM. DER ARTIKEL IST ALSO EIN VERSUCH, DIE AUFMERKSAMKEIT AUF DIESES THEMA ZU LENKEN, OHNE EINE BESTIMMTE PERSON ODER LEBENSSITUATION IN DEN FOKUS ZU RÜCKEN. DU HAST SELBER ÄHNLICHE ERFAHRUNGEN GEMACHT UND HAST LUST, UNS DAVON ZU ERZÄHLEN? SCHREIBE EINFACH UNTEN IN DIE KOMMENTARE. WIR FREUEN UNS, WENN DAS THEMA VON VIELEN SEITEN BELEUCHTET WIRD UND ETWAS AUFMERKSAMKEIT ERHÄLT!

Quellen & zum Weiterlesen

  1. https://www.zeit.de/campus/2016-09/aerzte-medizinstudium-zulassung-lehrplan-hierarchie, abgerufen 26.10.2020
  2. 21. Sozialerhebnung der Studentenwerke: http://www.sozialerhebung.de/download/21/Soz21_hauptbericht.pdf, abgerufen 26.10.2020
  3. Zitate von Lina, Kommilitonin an der MHH, die das Medizinstudium mit nur wenig finanziellen Mitteln meistert
  4. Zitat von Nemi El-Hassan aus https://www.deutschlandfunkkultur.de/ausbeutung-im-medizinstudium-die-billigaerzte-vom-dienst.1005.de.html?dram%3Aarticle_id=481788&fbclid=IwAR08kkAcMs75DS6YfLvoz5iWv7KfctVVY7z_kFIx_Q-3EGvJlDTsngsZIpM, abgerufen 26.10.2020

Antibiotika-Song von Botero

Beim Stöbern im Internet findet man manchmal kleine Schätze. Dazu zählt dieser Song, der die Beschäftigung mit Antibiotika-Therapie künstlerisch erleichtert. Umso bemerkenswerter, wenn man erfährt, dass es ein Kommilitone der MHH ist, der mit seiner sympathischen Art in Teleshopping-Aufmachung die verschiedenen Substanzklassen an den Zuschauer bringt. Um ein bisschen mehr zu erfahren, haben wir gleich mal persönlich nachgefragt:

Hallo Nico, wir sind auf Facebook durch Zufall auf Dein Video gestoßen und waren sofort begeistert. Erzähl ein bisschen über Dich: In welchem Jahr studierst Du? Hast Du einen besonderen Bezug zu Pharma, MiBi, oder eher zur Musik? 

Ich bin schon fast am Ende des Studiums angekommen, habe vor kurzem das Praktische Jahr beendet und lerne aktuell für das M3. Zur Pharma und MiBi habe ich keinen besonderen Bezug, was vielleicht auch der Grund für das Video war. Zur Musik schon eher, unter Anderem mache ich meine Doktorarbeit in der Musikermedizin. Dort untersuche ich verschiedene Aspekte von spielbezogenen Schmerzen bei Musikern. 

Was hat Dich zu dem Video inspiriert? Hast Du schon häufiger Videos oder Songs geschrieben? 

In der Lernphase fürs M2 habe ich mich am Klavier oft mit musikalischen Eselsbrücken abgelenkt. Mir hat das dann so Spaß gemacht, dass ich in der Zeit fast täglich Lernsongs geschrieben und teilweise auch produziert hab. Weil Antibiotika, glaube ich, generell ein unbeliebtes Lernthema sind, habe ich das Video einfach mal hochgeladen. 

Darf man hoffen, dass im Teleshopping bald noch weitere Pharmazeutika oder Therapien angeboten werden?

Weil ich momentan wieder in der Lernphase bin, ist das gar nicht so unwahrscheinlich. In einem aktuellen Projekt streiten sich der Ulnaris, Radialis und Medianusnerv darum, wer eigentlich ‚der Wichtigste‘ von Ihnen ist und welche Ausfälle drohen, wenn sie geschädigt werden. Ob ich das auch hochlade, weiß ich noch nicht.

Das klingt sehr vielversprechend, wir sind gespannt. Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast!

Hinweis: Der Songtext findet sich zum Nachlesen bei Youtube in der Beschreibung. Einfach im Video ‚auf youtube.com ansehen‘ klicken.

Replik zur AStA-Stellungnahme vom 24.08.2020

von Sören

Der AStA der MHH hat entgegen des StuPa-Beschlussvorschlags vom 18.06. und unter meinem ausdrücklichen Protest den Artikel zur Spendenpraxis der Islamischen Gemeinschaft der MHH (MHH-IG) dauerhaft von der Website gelöscht. Zuvor waren dort ausgewählte Artikel der Curare-Redaktion im Format Curare Direct veröffentlicht worden. Um diesen Schritt zu begründen, legte der AStA nun eine seit zwei Monaten versprochene Erklärung vor. Diese ist bis dato [10.09.2020] lediglich per Mail an das StuPa-Präsidium, Teile der Curare-Redaktion und die MHH-IG gesendet, aber nicht veröffentlicht worden. Adressiert sind jedoch alle ‚Kommiliton*innen‘. Der AStA hat über diese Stellungnahme mit 12 Ja-Stimmen und 3 Enthaltungen abgestimmt, sie wurde vom Vorsitzenden Lennart Simon unterzeichnet und ist von ihm verfasst worden. Unter diesem Text findet sich eine Kopie des Schreibens.

Im Folgenden möchte ich nicht nur zeigen, weshalb ich die angegebenen Gründe für unzureichend halte, sondern auch, dass es sich um einen dürftigen Versuch handelt, meine journalistische Arbeit und meine Person zu diskreditieren. Auf die in dem Schreiben stichpunktartig dargelegten Gründe gehe ich einzeln ein. Es wird in der Stellungnahme einleitend darauf hingewiesen, dass die Curare eine Zeitschrift des AStAs und damit nicht autark sei. Sollte es sich um eine Werbezeitschrift des AStAs handeln, würde ich nicht so stark mit der Entscheidung zur Löschung des Artikels ins Gericht gehen. Doch man erklärt: 

Mein Versprechen und das des AStAs ist, dass wir auch trotz des eben genannten Veto-Rechts, keine inhaltlich korrekten Artikel, auch wenn diese uns persönlich kritisieren würden, löschen lassen werden. In dem oben beschriebenen Fall gibt es jedoch einen entscheidenden Unterschied.

Damit ist also auch die interne Entscheidung des ‚Verlegers‘ AStA direkt an die darauffolgenden ‚Argumente‘ geknüpft. Sehen wir sie uns also einmal an.

Der Artikel ist inhaltlich korrekt recherchiert und es sind keine rechtlich relevanten Falschaussagen getroffen worden. Dennoch ist die im Artikel verwendete Sprache populistisch gewählt. So wird zum Beispiel eine Aussage getroffen, wie sich liberale Muslime zu verhalten hätten. Da der Autor weder Muslim ist, noch im engeren Umkreis Muslime nach diesen Aussagen gefragt hat, scheint dies für uns als AStA kritisch.

Die angesprochene Textstelle in meinem Artikel wird nicht zitiert, aber es kann nur eine gemeint sein, ich zitiere mich also selbst:

‚Dass insbesondere die falsche Rede von Toleranz lediglich das Tolerieren der eigenen religiös-autoritären Meinungen durch die Gesellschaft meint, weiß jede*r liberale und aufgeklärte Muslim*a, der*die einmal den Tugendbelehrungen oder dem sozialen Druck seiner*ihrer vermeintlichen Glaubensgenossen ausgesetzt war.‘

Es handelt sich um einen Aussagesatz ohne normativen oder auffordernden Charakter gegenüber liberalen Muslimen. Ich finde es befremdlich, mir auf Grundlage dieses Satzes zu unterstellen, liberalen Muslimen Vorschriften machen zu wollen. Wohlgemerkt sind die extremistischen Akteure, die beschrieben werden, die Vereine Islamic Relief (IR), die Deutsche muslimische Gemeinschaft und die Muslimische Jugend in Deutschland. Im betroffenen Absatz, sowie im Absatz davor und danach ist nicht einmal von der MHH-IG die Rede.

Nun zum letzten Satz: Ich frage mich, mit welcher Methodik der AStA ermittelt hat, mit wem ich gesprochen habe, wer davon muslimischen Glaubens ist und worum es in den Gesprächen ging. Jeder Leserin der Stellungnahme muss doch klar sein, dass es sich bei dieser Feststellung nur um eine einfache Mutmaßung handeln kann. Diese ist falsch, denn ich habe selbstverständlich mit Muslimen darüber gesprochen. Sie dient dem durchschaubaren Zweck, mich als gemeinen Demagogen darzustellen. Als ob ich mir im stillen Kämmerlein böse Anschuldigungen gegen bestimmte Gruppen ausdenke, um sie dann fälschlicherweise als Recherche zu veröffentlichen, anstatt tatsächlich mit Menschen ins Gespräch zu kommen und mit offenen Augen und Ohren durch das Leben zu gehen. Herbeifantasierte Anschuldigungen zur Unterstützung der eigenen Agenda gibt es hier vielmehr seitens des AStAs gegenüber meiner Person. Ich bin verwundert, dass man angesichts der ernsthaften Angelegenheit auf solche Mittel zurückgreift, insbesondere weil man doch mir unsaubere Arbeit vorwirft.

Die verwendete Sprache enthält Schlagwörter, wie z.B. ‚islamfaschistisch‘, welche in Texten des rechten Spektrums verwendet werden und somit bestimmte Sichtweisen implizieren, die der AStA der MHH nicht vertritt. 

Ob der Begriff ‚Islamfaschismus‘ einen wichtigen Gehalt hat, indem er politische Praktiken islamistischer Terrorbewegungen mit denen der europäischen faschistischen Bewegungen in Zusammenhang setzt, ist eine spannende Frage. Diese Debatte wird von Publizisten geführt, die dabei diesen Begriff regelmäßig verwenden, aber keineswegs zum rechten Spektrum zählen, sondern als Religionskritiker bekannt sind, z.B. Hamed Abdel-Samad, Ayaan Hirsi Ali, Stephan Grigat. Ob Andere, die diesen Begriff nutzen, u.a. Daniel Cohn-Bendit, Necla Kelek, Leon de Winter oder Josef Joffe zum rechten Spektrum gehören, kann jeder Leser selbst ermessen.

Kurzum: Eine einfache Recherche ergibt zahllose Verweise auf eine Verwendung durch Personen des öffentlichen Lebens, bei denen völlig außer Frage steht, dem rechten Spektrum anzugehören. Ohne Quellenangabe ist es für mich unmöglich, eine einzige Verwendung durch Rechte aufzufinden. Es scheint mir, als habe man hier einfach den vorgebrachten Einwand einer Person aus der AStA-Sitzung vom 23.06. aufgegriffen und nicht weiter geprüft. Ich antwortete damals aufrichtig, dass mir keine Verwendung durch Rechte bekannt sei und ich das gern nachsehe. Im Protokoll der Sitzung wurde daraus:

Sören räumt ein, dass er nicht wusste, inwiefern dieses Wort vorbelastet ist und somit auch nicht wusste, welchen Effekt dieses generieren würde. (Protokoll der AStA Sitzung vom 23.06.)

Man implizierte also schon damals ohne weitere Nachprüfung, dass eine vermeintliche Vorbelastung des Begriffes erwiesene Sache sei. Vermutlich, weil es hilft, das Bild eines undifferenzierten Hassartikels zu stützen, der rechtes Gedankengut verbreiten möchte.

Auch hier möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass der Begriff erläuternd für die Politik der Terrororganisation Hamas verwendet worden ist, nicht im Zusammenhang mit der MHH-IG, nicht einmal IR. 

Nicht weil es nötig ist, sondern weil es hier insinuiert wird, weise ich darauf hin, dass auch ich weder rechte Sichtweisen vertrete, noch im Artikel implizit zu transportieren suche.

Da über ‚Schlagwörter‘, und damit Plural geschrieben wird und ‚Islamfaschismus‘ lediglich ein einziges Beispiel darstellt, erwarte ich noch die Nennung der weiteren, vermeintlich problematischen Begriffe, die eine Zensur rechtfertigen sollen.

Der Autor war in keinem der genannten Diskussionen und Gesprächen bereit die Sprache zu ändern. Die IG der MHH hat mehrfach betont, dass ein Text gegen die Spendenorganisation an die gespendet wurde, in keiner Weise kritisch gesehen wird. Lediglich das, was ‚zwischen den Zeilen steht‘, impliziere einen Zusammenhang der IG MHH und Terroristen, gegen den die IG und auch der AStA vehement widersprechen möchten. 

Ich bin bereit, Fehler einzugestehen und Korrekturen vorzunehmen, sofern sie begründet sind. Dies erklärte ich bereits am 18.06. in der StuPa-Sitzung. Um diese Möglichkeit zu bieten und Einwände ernst zu nehmen, bin ich bereitwillig allen Einladungen zu Sitzungen und Gesprächen gefolgt. Leider hat mich bisher kein Einwand erreicht, der eine Änderung des Artikels mit Richtigstellung rechtfertigen würde. Eine Kostprobe der Qualität dieser Einwände finden wir in diesem Schreiben. 

Ich wiederhole nun noch einmal, was ich auf den o.g. Einwand bereits im StuPa sagte: Mein Artikel besteht nicht nur aus einzelnen Schlagwörtern, sondern aus weiteren Worten, aus ganzen Sätzen und Absätzen, die die darin verwendeten Wörter in einen Sinnzusammenhang stellen. Der einzige Zusammenhang zwischen MHH-IG und Terroristen, den mein Artikel zeichnet, ist derjenige, dass die MHH-IG an eine Organisation Geld spendete (ich lasse sogar offen, ob wissentlich oder nicht), die es nicht schafft, sich gegenüber Extremisten und Terroristen abzugrenzen. Man kann nicht einfach zwei Schlagworte aus dem Text und damit aus dem Sinnzusammenhang reißen, um eine Löschung des Artikels zu rechtfertigen, weil der Inhalt nicht angenehm ist. Und dass er das nicht ist, wurde ja bereits vielfach eingestanden, denn man hat die Problematik mit IR (Islamic Relief) erkannt und will die Spenden dorthin beenden. Genauso verstehe ich auch, dass die MHH-IG um ihre Außenwirkung besorgt ist, gleichwohl hat sie mehrfach an IR gespendet, das können weder ich noch der AStA ändern. Mittels dieser Spende hat die MHH-IG selbst den Zusammenhang zwischen sich und IR hergestellt, den sie nun nicht in einem journalistischen Medium sehen will. Insofern ist die häufig wiederholte Forderung nach einem kritischen Artikel über IR unter Aussparung des Namens der MHH-IG eine dreiste Unverfrorenheit, die ich als Journalist entschieden zurückweise. Die Weglassung des MHH-IG Namens ist in diesem Zusammenhang eine Zensur, um sich in einem besseren Licht dastehen zu lassen und ich finde es sonderbar, wie der AStA sich dieser Forderung anschließen kann.

Dass man meine Weigerung, den MHH-IG Namen zu entfernen, in diesem ‚Argument‘ als fehlende Bereitschaft, ‚die Sprache zu ändern‘ bezeichnet, zeigt auch, wie sehr der Vorwurf der implizit rechten Sprache mit dem Wunsch verquickt ist, eine den eigenen Zielen zuträgliche und unkritische Berichterstattung zu erwirken.

Der Autor hat mit privater Werbung für seinen Artikel deutlich gemacht, dass für ihn die IG Islamisten unterstütze. Auch wenn der AStA der MHH keinen Einfluss auf private Inhalte hat, möchte er solchen Aussagen keine Plattform bieten. In dem Artikel selber ist keine solche Aussage getroffen und der Autor hat immer wieder betont, dass er mit der Werbung lediglich den Inhalt des Artikels korrekt zusammengefasst habe. 

Ich zitiere meine eigene Antwort auf diesen Vorwurf, der bereits in der Klagedrohung der MHH-IG gegenüber mir und der Redaktion gemacht wurde und dem ich mit folgender, nachvollziehbarer Darstellung meiner Prämissen antwortete: 

1) Die MHH-IG spendete an IR. (Beleg sind Plakate in der Uni, Einladungsmail, Spendenbescheinigung auf der Charity Week-Website) 

2) IR verfügt über signifikante personelle Verbindungen zur Muslimbruderschaft. (Drucksache Bundestag 19/9415) 

3) Die Muslimbruderschaft ist eine Islamistische Organisation. (z.B. BPB-Artikel zur Muslimbruderschaft)

Eine Geldspende ist für mich eine „Unterstützung“. Es ist falsch, dass diese Informationen nicht im Artikel zu finden sind. 

Die Islamische Gemeinschaft der MHH vertritt eine vulnerable Minderheit in unserer Gesellschaft. Auch ohne Zeitungsartikel, welche eine Verbindung von Muslimen zum Terrorismus implizieren, muss sich diese Minderheit in unserer Gesellschaft gegenüber solchen Anschuldigungen jeden Tag rechtfertigen. 

Eine Verbindung von Muslimen zum Terrorismus habe ich lediglich in der differenzierten Art gezogen, die in meinem Artikel zu finden ist und die ich bereits in meiner Antwort auf den dritten Punkt oben genannt habe. Zudem „impliziere“ ich diese Verbindung nicht, sondern beschreibe sie so explizit, wie es auf drei Seiten geht. Ich beschreibe, wohin Geld floss, welche Organisationen miteinander in Kontakt stehen und wie diese Interaktion aussieht.

Durch diese Explikation ist es das gute Gegenteil vom gemeinen, impliziten Vorwurf, Muslime seien Terroristen, den zu machen mir unterstellt wird.

Die Vulnerabilität einer gesellschaftlichen Gruppe sollte nicht als Mittel zur stereotypen Abwehr von Kritik angeführt werden. Vermutlich sind wir uns alle einig, dass so eine Minderheit leider viel zu häufig unberechtigte Beschuldigungen und implizite Ablehnung erleben muss. Insofern verstehe ich einen Teil der Sensibilität und Emotionalität, was Kritik betrifft. Um im medizinischen Sprachgebrauch zu bleiben: Wenn dies so sehr auf Kosten der Spezifität geht, dass man nur noch von „solchen Anschuldigungen“ redet und die Vulnerabilität als ein für sich stehendes Argument nutzt, dann ist jede legitime Kritik leider auch verunmöglicht. Und das Problem reicht dann weiter: Indem man mittels dieses gesellschaftspolitischen „Artenschutzes“ Kritik, Diskurs und Meinungsverschiedenheiten wegbügelt, nimmt man der entsprechenden Minderheit die Möglichkeit, sich zu Vorwürfen zu positionieren, für das eigene Agieren Verantwortung zu übernehmen und dadurch einmal ein mündiger Teil der Zivilgesellschaft zu werden, sich zu emanzipieren. Der AStA hat der MHH-IG am 23.6. genau diese Möglichkeit genommen, indem er den Vorschlag ablehnte, eine Gegenstellungnahme abzuwarten.

Die Thematik der Spendengenerierung an der MHH und der Überprüfung der Organisationen, an die gespendet wird, wurde angestoßen und wird in einem bereits vereinbarten Termin kritisch diskutiert. Es wurde bereits beschlossen, dass keine weiteren Spenden für diese Organisation gesammelt werden.

Dass ein Treffen zur Reflexion über Spendenorganisationen stattfinden soll, finde ich begrüßenswert. Mir ist allerdings völlig unklar, wieso die Verabredung zu einem Treffen zur Reflexion über Spendenorganisationen einen Grund für die Löschung meines Artikels darstellt. 

Die IG der MHH konnte zum Zeitpunkt der Spendenaktion nach Meinung des AStAs nicht wissen, dass die Organisation an die gespendet wurde ggf. personelle Überschneidungen mit islamistischen Gruppierungen hat, da diese (auch heute noch) von Programmen der Bundesregierung unterstützt wird.

Dass keine weiteren Spenden an IR auf dem Campus gesammelt werden, begrüße ich. Wieso ist die dazugehörige Recherche vom AStA nicht gewünscht?

Ich behaupte nicht, dass die MHH-IG um die Problematiken der Organisation IR wusste, bevor ich ihnen eine Mail schrieb. Allerdings war es für mich selbst nicht schwierig, nach dem Blick auf das Einladungsplakat der MHH-IG die Verbindungen zu recherchieren. Wieso konnte die MHH-IG dies nicht? Und welche Belege hat der AStA dafür, dass die MHH-IG es nicht wissen konnte? Dass die Bundesregierung etwas unterstützt, enthebt niemanden von der Verantwortung für das eigene Handeln. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass man sich als mündiger Bürger vor einer Spende gewissenhaft über den Empfänger informiert. Dass dies nun überhaupt geschehen ist, sehe ich als einen Verdienst meines Artikels an. Nicht einmal der vorherige Mailverkehr mit der damaligen 1. Vorsitzenden hat dazu beitragen können.

Darüber hinaus ist die Tatsache, ob die MHH-IG von den Verbindungen wusste oder nicht, als Argument für die Löschung meines Artikels völlig unerheblich.

Gegenargument der Redaktion: Der Artikel ist rechtlich unangreifbar und sollte aufgrund der Pressefreiheit unzensiert bleiben. Alle Quellen sind korrekt recherchiert. 

Ich habe den Diskurs um meinen Artikel sehr ernst genommen. Wie auch an dieser Stelle habe ich jedes Schreiben in diesem Streit in sorgfältiger Arbeit beantwortet, mich zu jeder Sitzung oder Veranstaltung zum Thema begeben und trotz des stellenweise starken Durcheinanders jederzeit bemüht, die Argumente der Gegenseite spezifisch zu beantworten. Insofern finde ich es äußerst befremdlich, dass meine Position und die der Redaktion hier zu einer so unpassenden Aussage zusammengedampft werden. Dies soll offensichtlich dazu dienen, uns beim Leser der Stellungnahme als empathielose Hardliner darzustellen, die auf jeden Einwand mit stereotyper Abwiegelung antworten.

Zu den Konklusionen, die der AStA in seiner Stellungnahme aus diesen „Argumenten“ zieht, wird hier auf dem Blog an anderer Stelle eingegangen.

Antidoton

Hier entsteht der Blog antidoton.de. Nach und nach werdet ihr hier Informationen über das Redaktionsteam, die Idee hinter dem Projekt und natürlich spannende und diskursive Beiträge finden.